***mittendrin und zwischendurch***
Lynchjustiz auf dem Land...
Am 09. Juli 2007
Der Sprecher der Staatsanwaltschaft erklärte dass es bislang völlig rätselhaft sei warum es am gestrigen frühen Abend im Schalterraum des Postamtes zu E. zu einem bisher einzigartigen Fall von Übergriff auf eine ältere Touristin aus Süddeutschland gekommen sei. Aus bislang nicht bekanntem Grund stürzte sich eine Gruppe von Wartenden auf die Frau und fügte ihre schwere Prellungen und eine Bissverletzung zu die eine stationäre Behandlung in der Klinik erforderlich machten. Auch der Hauptverdächtige ist bislang nicht vernehmungsfähig da er einer Kieferoperation unterzogen werden musste. Der zweite Verdächtige wurde in eine Nervenklinik eingeliefert und ist ebenfalls nicht vernehmungsfähig weil er aufgrund von paranoiden Erscheinungen in ein Beruhigungskoma versetzt wurde. Zeugen die sachdienliche Hinweise geben können werden gebeten sich mit den Ermittlungsbehörden in Verbindung zu setzen.

So kurz vor sechs war ich auf dem Postamt. Man muss einigermaßen zeitig vor sechs da sein weil sonst die Post nicht mehr am gleichen Tag auf die Reise geht. Geschäftsleute wissen das. Sie richten sich so ein dass sie spätestens eine Viertelstunde vor Schalterschluss da sind. Alle drei Schalter waren besetzt. Allerdings hatte Heino P., der normalerweise den mittleren Schalter bedient gerade eine knapp dreiviertelvolle Box mit Postgut aufgenommen und machte sich daran diese mit einer Geschwindigkeit von zwei Angström pro Stunde Richtung Lagerraum zu tragen. Nicht umsonst hatte sein Orthopäde ihm zur Vorsicht bei körperlicher Betätigung geraten. Lieselotte F., für den Schalter rechts außen zuständig führte gerade ein dienstliches Telefonat mit ihrer Freundin Luise P. in der Postgirozentrale um zu klären ob man sich nun vor oder im Café S. zur Dienstabschlussbesprechung treffen solle.

Hannelore W. am Schalter links hatte gerade einen ausländischen Mitbürger und Migranten mit den Feinheiten deutscher Postvorschriften vertraut gemacht und ihm in einem knapp zwanzig Minuten langen Intensivkurs erklärt dass es ihr völlig unmöglich sei, jetzt die Postleitzahl von Novyx-Züdriszk in ehemalig Deutsch-Sachalin ausfindig zu machen und außerdem möge er doch bitte einen neuen Aufkleber für sein Paket erstellen. Soooo ginge das Ganze schließlich nicht und hier wird leserlich geschrieben.

Hinter dem ausländischen Mitbürger stand eine ältere Dame. Anhand ihrer Kleidung eindeutig als Touristin zu identifizieren. Sie sah genau aus wie eine jener frühen Witwen die es erfolgreich geschafft hatten den Gemahl nach einem arbeitsreichen Leben kurz nach Renteneintritt ins Paradies zu befördern. So erschien es mir jedenfalls denn ich konnte mir gut vorstellen dass das Leben auf Erden mit ihr die Hölle gewesen sein musste. Besagte Dame trug dunkelblaue Espadrilles aus Plastikschnur die unschwer dem Sortiment eines Textildiscounters zugeordnet werden konnten. Darüber zeigte sich eine durch Nordic Walking gestählte Wade in der Farbstellung brauner Straßenköter mit dezentem Stich ins Schwefelgelb. Eine knapp sitzende hellblaue verschossene Caprihose und ein nicht minder eng sitzendes T-Shirt zeugten gleichermaßen von dem Bemühen um ewige Jugend wie von Sparsamkeit. Blonde Haare an denen die Wunder der Chemie deutliche Wirkung zeigten, zu einer Art modischem Wischmopp zusammen gefasst, krönten nebst einer neckisch in den Mopp hochgeschobenen Sonnenbrille, Modell Lollo einer bekannten Edelmarke, das Outfit. Weitere Informationen konnte der interessierte Beobachter aus kleinen Details wie mehrfach luxusbeschlagringten Fingern erkennen. Wobei nicht ganz klar war ob die beginnende Deformation der Gelenke auf Überbeanspruchung durch Karate (nein, nicht der Kampfsport) oder beginnende Gicht zurück zu führen war. Und auch sonst war die Dame aufgrund ihres funkelnden Behangs ähnlich wie ein Sendemast mit Warnlampen relativ gut gegen versehentliches übersehen werden geschützt. Über die Schulter gehängt hatte sie eine jener Taschen deren Form eine Kreuzung aus Kuhmagen und Plastiktragetasche zugrunde lag.

Hinter besagter Dame hatte sich inzwischen eine Reihe von knapp zwanzig Postkunden aufgestellt die alle darauf hofften ihre wichtigen Depeschen, Päckchen und Pakete noch rechtzeitig vor dem Eintreffen des motorisierten Postillions aus der Kreisstadt aufgeben zu können. Direkt hinter der Dame, zwei Plätze vor mir konnte ich den Boten der Drogerie erkennen der eine ganze Reihe von Paketen auf seinen Armen balancierte. Sein Bemühen den Stapel sorgfältig ausbalanciert zu halten gemahnte an die Kunstfertigkeit eines Jongleurs mit gehobener Perfektion. Ich bin fast sicher dass die Post keine Ablagemöglichkeiten für Kunden mit vielen Päckchen zur Verfügung stellt um ihren Bediensteten solche artistischen Auftritte der Kunden als Teil des Gehaltes in Rechnung stellen zu können.

Die Protagonistin des Geschehens hatte sich inzwischen vor dem Schalter von Hannelore W. in Position gebracht. Es dauerte nur knapp fünf Minuten bis sie dem Kuhmagen ihre Lesebrille und eine Postkarte entrissen hatte.
„Ich hädd gern ä Briefmärggle für des Poschdgärddle!“ sagte sie zu Hannelore W. Diese tippte einen kleinen Moment auf der Tastatur ihres Eingabegerätes herum worauf der Drucker ein Portoetikett ausspuckte.
„Ha noi!“ sagte die Dame mit Nachdruck.
„Nach Vietnam?“ fragte Hannelore W. verunsichert. „Geht die Postkarte nach Vietnam?“
„Ha noi!“ wiederholte die Kundin. „I wollet ä richdigge Briefmargge zum draufklebbä. Aber bitte ä Schönne. Ää wo zu dem Bild auf dem Gärddle basst!“
Hannelore W. schwankte zwischen Trotz und Unsicherheit. Schließlich siegte die Angst vor der fremden Sprache und sie griff nach einem Streifen mit Postwertzeichen, wie es amtlich korrekt heißt.
„Noi, diiiiieeeee will I nedde...!“ sagte die Kundin nachdem sie einen kurzen Blick auf das Angebot geworfen hatte. Resolut rückte sie das Modell Lollo im aufgetürmten Mopp zurecht. „I brauched was in Blau, was zu dem Gärddle basst. Hennse nedde was mit änner blauen Blüte? So e Märggle hann ich schon mal g`habbt.“
Hannelore W. war sprachlos. Noch nie war ihr der Gedanke gekommen dass Postkarte und Briefmarke womöglich ein Gesamtkunstwerk bilden konnten. Die Kundin insistierte:
„Des Gärddle isch für mei Freundin Tamara in Baden-Baden und die isch ja soooooo empfindlich. Also wenn’s vielleicht eins von denne blaue Märggle, I glaub da war ä Enzian, oder noi, wars ä Horddensie? Also da war so ä blaues Blümel drauf!“
Hannelore W. kramte in ihrer Schublade während der Drogeriebote mit seiner Paketsäule eine Mischung aus Veitstanz und chinesischer Tellerjonglage darbot. In den Reihen hinter mir war deutlicher Unmut zu vernehmen, auf den Punkt gebracht von einem Bürger eindeutig südländischer Provenienz. Er sprach nicht nur mir aus dem Herzen:
„Moag oamal jemand der oiden Schratzn durddn soaggn dass` sich ihr Bapperl endlich an`n Oarsch kleem`n soll?“
In der mittlerweile noch länger gewordenen Schlange gab es zischelnden Beifall und leichtes, vergnügte Hüsteln. Die Kundin ließ sich davon nicht beirren. Im Gegenteil. Sie war an der Reihe und sie gedacht nicht das Feld mit einer stilistisch unzureichenden Kombination aus Grußkarte und Postwertzeichen zu verlassen. Nach diversen Vorschlägen seitens Hannelore W., sorgfältiger Farbabstimmung und eingehender Diskussion über die Stimmigkeit von Postkarten- und Postwertzeichenmotiv entschloss die Kundin sich schließlich für eine maritim angehauchtes Postwertzeichen mit Leuchtturm. Hannelore W. wollte gerade erleichtert den obligaten Zahlungsbeleg ausdrucken als die Kundin die Rückseite der ausgewählten Marke gerade mit spitzem Zeigefinger prüfte.
„Die ist aber ned selbstgläämmd“ stellte sie mit einigem Verdruss fest. „So eine welled I au nedd, die schmeckedd ja fürchterlich, früher konnt man so ä Märggle noch oalegge, heit ist es ja es schiere Giffd...“
Was nun folgte spielte sich in Sekundenbruchteilen ab aber wenn ich die Augen schließe und mich konzentriere kann ich die Ereignisse immer noch wie in Zeitlupe vor mir ablaufen sehen.
Wie bei einem Vulkanausbruch konnte ich plötzlich einen strengen Geruch wahrnehmen. Gerade noch konnte ich erkennen dass sich im Nacken des Drogerieboten kräftige Schweißperlen gebildet hatten. Seine zirzensische Darbietung hatte sich ins Nonplusultra gesteigert. Plötzlich drehte er einen Doppelaxel, ergänzte ihn mit einem zweifachen Rittberger und endete mit eine einfach gesprungenen Toeloop und einer gehockten Pirouette während über ihm der Stapel der sorgsam gepackten Päckchen wie ein mitleidiger Regen hernieder ging. Schließlich fiel er ganz zu Boden, breitete seine Armen weit aus als ob er seine Schützlinge in seine sicheren Arme zurück locken wollte. Ein heftiges Schluchzen, gefolgt von einem heiseren Schrei der verblüffende Ähnlichkeit mit dem brünstigen Ruf eines Wolfsrüden hatte warf er sich nach vorne und schlug seine Zähne mit animalischer Wucht in die vor ihm befindliche Wade.
Die Eigentümerin der Wade zuckte vor Überraschung und Schmerz heftig zusammen, rotierte ihrerseits nach bester Schwanenseemanier in hochtouriger Pirouette und schlug dabei ihre Kreuzung aus Kuhmagen und Plastiktüte einigen bis dato unbeteiligten Wartenden um die Ohren. Der Rest ist nicht mehr genau nachzuvollziehen. Hannelore W. hatte instinktiv mit einem harten Hüftschwung ihre Kassenschublade gesichert und ging hinter dem vor ihr stehenden Monitor in Deckung. Hanno P. der inzwischen etwa die Hälfte der zwei Meter zwischen Schalter und Türe zum Lagerraum zurück gelegt hatte ließ die Box mit der Briefpost fallen und registrierte mit Verzückung, dass diese die Spitze seines rechten großen Fußzehs getroffen hatte. Umgehend bog er schnellen Schrittes nach links in Richtung Personalräume ab um telefonisch einen Notfalltermin mit seinem Orthopäden zwecks langfristiger Krankschreibung nach Dienstunfall zu vereinbaren.

Bis zum Eintreffen der Ordnungskräfte kam es im Schalterraum zu diversen Kollateralschäden da das Publikum teilweise die Gelegenheit nutzte um sich durch sportliche Betätigung einen Besuch im Fitness – Studio zu ersparen. Der Drogeriebote wurde nach einer tieramtsärztlichen Untersuchung auf Tollwut und Vogelgrippe der Kieferchirurgie zugeführt. Die Kundin wurde aus Sicherheitsgründen mit dem Rettungshubschrauber in die Klinik der Kreisstadt geflogen nachdem man ihr gestattet hatte ihr weißes T-Shirt gegen ein gelbes, besser zum Fluggerät passendes auszutauschen. Die Renovierungsarbeiten am Schalterraum werden einige Tage in Anspruch nehmen, Postkunden werden gebeten so lange den Aushilfsschalter der vorübergehend hinter der Käsetheke der Metzgerei F. eingerichtet wurde in Anspruch zu nehmen.

Ach Schwester, kommen Sie mit der nächsten Spritze?

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mandala, 2007.07.09, 23:05
Solche Geschichten mag ich!
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byggvirofbarley, 2007.07.10, 20:23
Wunderbar.


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bufflon, 2007.09.13, 16:49
Herzlichen Glückwunsch. :-)
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