***mittendrin und zwischendurch***
Sonntag, 25. November 2007
Jackpot Fieber
Am 25. November 2007
Eigentlich wollte ich nur eine Zeitung vom Wochenende. Als ich um die Ecke bog, um zum Kiosk meines Vertrauens zu gelangen, stockte mir der Atem: Dutzende, ach was, hunderte Menschen bildeten eine Traube um die kleinen Tische, die im Vorraum des Laden stehen. Mit glasigen, teilweise schon irrlichternden Blicken fingerten sie durch die Ständer, in denen die Versuchung des schnellen Geldes lockte. Die Lottoscheine. Dabei weiß doch jedes Kind, dass der Einzige, der dabei wirklich schnelles Geld macht, die Lottogesellschaft ist.
Den Kioskbesitzer, mit dem ich sonst schon mal einen kleinen Smalltalk riskiere, machte auf mich einen etwas desolaten Eindruck. Jedenfalls das, was ich von dem armen Mann sehen konnte. Seine Hemdsärmel flatterten in Streifen zerlegt um die Oberarme. Ohne Zweifel hatte er auch die eine oder andere Schramme im Gesicht und sein rechtes Auge schien blutunterlaufen zu sein. In seinen Augen konnte ich so etwas wie Todesangst ausmachen.
„Was ist den hier los? Gibt’s morgen keine Zigaretten mehr?“ rief ich ihm so laut es ging zu.
Antworten konnte er nur mühsam. Denn seine Frau warf ihm ein Päckchen zu, das er aber nicht richtig zu fassen bekam und Sekunden später flatterten Dutzende kleine Zettel über die Köpfe der Menge hinweg. Lottoscheine, wie ich gleich feststellen sollte. Er versuchte, sich in meine Richtung zu bewegen, aber der Sog der Menschenmenge um ihn herum war größer. Jedes mal wenn es ihm gelang sich in Richtung Ausgang zu bewegen, tönte ein vielstimmiger Schrei „Lottoscheine – wo gibt’s denn hier Lottoscheine?“ aus der Menge. Und dann wiederholte sich das Schauspiel. Seine Frau versuchte, ihm einen neuen Packen Lottoscheine zukommen zu lassen, damit er die kleinen Ständer auf den Tischen auffüllen konnte. Und jedes Mal verfehlte er den Wurf nur knapp.
Die Bewegung der, nach den neuen Scheinen schnappenden, Menschen erinnerte mich irgendwie an Fische im Teich, die nach Futter schnappen.
„Es ist der Jackpot!“, hörte ich seine gebrochene Stimme noch, bevor ich ihn endgültig aus den Augen verlor. „Es sind morgen 26 Millionen Euro im Jackpot!“ Dann hörte ich nur noch einen spitzen Schrei seiner Frau. Erst später sollte ich in der Zeitung lesen, dass er in diesem Moment von einem achtzigjährigen Rollstuhlfahrer hinterrücks erlegt wurde und sich dabei das Wadenbein brach.
Während ich noch sinnierte was das ganze Getue um diesen lächerlichen Jackpot sollte, dessen Gewinn noch unwahrscheinlicher war als ein Urlaub auf dem Mars, erkannte ich Herrn und Frau Brokspeier aus unserer Siedlung. Sie mühten sich damit ab, ihre Urgroßmutter auf einer Trage in Richtung Lottoschalter zu schaffen. Urgroßmutter ist eigentlich fast blind und auch taub, aber jetzt konnte ich deutlich von ihren Lippen lesen, dass sie ständig Jackpot, Jackpot“ zu flüstern schien. Ich nickte mit dem Kopf in ihre Richtung, während aus der Menge vor mir laute Schreie tönten: „Der Schein mit der Endziffer 6 beim Spiel 77 ist aber meiner, was fällt Ihnen ein? Den habe ich mir gerade gesichert, ich brauche da unbedingt eine sechs!“
„Dann malen Sie sich gefälligst eine sechs auf die Backe – das ist jetzt mein Schein. Und wenn Sie noch einmal mucksen dann stecke ich Ihnen meinen Kuli ins Ohr!“ Die ausgeführt höfliche Konversation wurde mit erhobener Stimme fortgesetzt und ich bedauerte, dass ich nur einen der Kontrahenten sehen konnte, der gerade dabei war, seinen Gegenüber am Ohrläppchen aus den Schuhen zu heben.
Da entdeckte ich Frau Krause aus unserer Strasse. Eine rüstige Rentnerin, die allerdings mit dem Gehen etwas Schwierigkeiten hat. Deswegen nutzt sie einen Rollator. Scheinbar war es nicht das erste Mal, dass auch sie dem Jackpot–Fieber erlegen war. Sie hatte ihren Rollator nämlich nach Art eines römischen Kampfwagens aufgerüstet. Waagerecht ragte vom linken Griff aus die Spitze ihre Regenschirmes hervor während sie am rechten Griff ihren Gehstock in ähnlicher Manier mit Leukoplast fixiert hatte. Mit eiserner Miene schob sie dieses Gefährt nun in die Menge, und zumindest zu Beginn hatte sie damit überraschende Erfolge. Zwei aufgeschlitzte Jeans und eine durchbohrte Handtasche später kam ihr Vormarsch jedoch zum Erliegen. Für einen Moment verlor ich sie aus den Augen, dann kam sie fast wie eine Kanonenkugel wieder aus der Menge heraus geschossen. Dieses Mal aber hing der zerfledderte Regenschirm um ihren Hals, die Spitze war im rechten Winkel abgeknickt. Ich versuchte ihr ein wenig auf die Füße zu helfen, irgendwie tat sie mir dann doch leid.
„Frau Krause, müssen Sie sich das in dem Alter denn wirklich noch antun? Sie sind fast neunzig – was machen Sie denn, wenn Sie jetzt den Jackpot gewinnen? Also ich würde mich da nur noch ärgern.“
„Ich mich ärgern? Von wegen! Wenn ich den Jackpot gewinne, stifte ich das ganze Geld dem Tierschutzverein, damit mein Schwiegersohn sich ärgert!“ Ich zuckte mit den Achseln.
Inzwischen hörte ich draußen ein Martinshorn. Das war wohl der Krankenwagen, der den angeschlagenen Kioskbesitzer abholen sollte. Die beiden Männer eilten mit Ihrer Trage in Richtung Kiosk, als einer das Gerät plötzlich fallen ließ und rief: „Ach Scheiße – Lisa hat mir ausdrücklich gesagt ich soll unbedingt Lotto spielen. Jackpot – Du weißt schon!“
„Gut dass Du mich daran erinnerst, ich hätte es fast vergessen!“ Und schon stand die Trage senkrecht hochgestellt an der Wand, die beiden Herren des Rettungsdienstes waren in der brodelnden Menge verschwunden. Ich überlegte kurz. Die Gier nach dem großen Geld ist mir nämlich völlig fremd. Aber wenn ich den Jackpot gewänne, würde Frau Krause sich ärgern, weil sie ihren Schwiegersohn nicht ärgern konnte. Und Frau Krause ärgerte mich im Sommer des Öfteren, wenn Sie auf ihrer Terrasse das Schatzkästlein der Volksmusik im Kofferradio in voller Lautstärke ertönen ließ, während ich auf meinem Liegestuhl lag und versuchte, dem Gras beim Wachsen zuzuhören.
Nein, ich durfte und konnte nicht zulassen, dass Frau Krause womöglich den Jackpot gewann. Noch einmal holte ich tief Luft, dann warf ich mich in die Menge.

Und wenn jemand zufällig diesen Bericht liest und genauso zufällig weiß, wo mein rechter Schuh abgeblieben ist, dann wäre ich für einen kleinen Hinweis dankbar!

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Eine Überraschung...
Am 25. November 2007
gabs heute Morgen im Arbeitszimmer. Der schon über zehn Jahre alte Hibiscus, der dem Tod durch Erfrieren preisgegeben werden sollte, bedankte sich für seine Rettung.



Da sage noch einer Pflanzen hätten keine Seele....

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