***mittendrin und zwischendurch***
Dienstag, 22. Dezember 2015
Kurt Masur
Am 22. Dezember 2015
Es dauerte eine ganze Weile, bis Helfer den von seiner Krankheit deutlich gezeichneten alten Herrn auf das Podium und auf das speziell für ihn hergerichtete Dirigentenpult geleitet hatten. Jeder Schritt schien unglaubliche Kraftanstrengung spüren lassen. In der riesigen, zum Konzertsaal ungebauten Turbinenhalle des Kraftwerks Peenemünde, die bis auf den letzten Platz besetzt war, hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Masur dirigierte das Baltic Youth Orchestra, dessen Musiker allesamt junge Menschen aus dem Ostseeraum sind. Natürlich Beethoven.
Dann geschah etwas Unwirkliches. Nach wenig mehr als zwei Takten schien eine Art stählerne Sehne in Masur zum Leben zu erwecken. Sein Dirigat war kraftvoll, keine Spur von Gebrechlichkeit. Energisch und konzentriert führte er das Orchester. Und dann, nach dem der letzte Akkord verklungen war riss er beide Arme nach oben und rief ein lautes "Ja!" - so laut, dass es in der ganzen riesigen Halle deutlich zu vernehmen war.

Als er sich dann in einer kurzen Dankesansprache an sein Publikum wandte, schien die Energie, die ihn eben noch getragen hatte, wieder aus seinem Körper zu entweichen. In einer kurzen, bewegenden Ansprache verlieg er seiner Genugtuung Ausdruck, dass nun in dieser Peenemünder Halle, die so unendlich viel Leid gesehen hatte, Musik im Sinne der Völkerverständigung erklang. Er dankte seiner Frau für ihre unermüdliche Unterstützung und ermahnte uns, das Publikum, zu Toleranz und Nachsicht. Mit den Worten "seid gut zueinander!" schloss er seine Rede.

Zwei Tage zuvor hatte ich das Vergnügen und die Ehre, ihn in einem kleinen Kreis von Kollegen persönlich kennen zu lernen. Auf die Frage, warum er sich angesichts seines hohen Alters und seiner Krankheit noch zumutete, einen Meisterkurs für Dirigentenschüler zu halten, antwortete er: "Ich muss so viel wie möglich von dem, was mir geschenkt wurde, an junge Menschen weiter geben. Das ist meine Verpflichtung!" Bitter beklagte er sich darüber, dass aus seiner Sicht Musik in Deutschland einen immer geringeren Stellenwert hätte, vor allem in Familien. "Eine Mutter, die ihrem Kinde jeden Abend, wenn sie es zu Bett bringt, ein kleines Lied vorsingt oder mit ihm singt, wird immer im Herzen ihres Kindes sein, auch dann, wenn sie selbst schon lange nicht mehr ist."

Deutschland werde ein Land der musikalischen Barbarei und wenn es so weiter gehe werde der Tag kommen, an dem man die großen deutschen Komponisten nur noch von Musikern aus Asien gespielt und dirigiert werde hören können. Das Gespräch drehte sich dann um die Stücke, die an besagtem Abend gespielt werden sollten. Darunter auch Schostakowitsch, den er, Masur persönlich gekannt hatte und mit dem ihn eine Freundschaft verband.

Warum auch immer, irgendwie rutschte mir der Satz heraus "Ich habe mit Schostakowitsch ein Problem!" Masur lächelte mich an. "Sie haben kein Problem mit Schostakowitsch, Sie haben ein Problem mit sich. Sie blockieren anstatt die Musik auf sich wirken zu lassen. Machen Sie einfach die Augen zu und lassen Sie es zu."

Zwei Tage später folgte ich seinem Rat und tatsächlich - ich entdeckte Schostakowitschs Musik ein klitzekleines Stückchen neu und anders. Zumindest löste sie auf einmal nicht mehr das Gefühl der heftigen Ablehnung aus. Ich gebe zu, er gehört noch immer nicht zu meinen Favoriten. Aber es ist anders geworden. Danke, Kurt Masur. Und Danke, dass ich einem wirklich außergewöhnlichen Menschen persönlich begegnen durfte.

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