***mittendrin und zwischendurch***
Donnerstag, 19. Juli 2007
Landpartie
Am 19. Juli 2007
Es gibt an diesem Morgen keinen Grund zur Eile. Noch sind die Strassen leer. Das Ereignis des Jahres fordert in der kleinen Stadt Tribut.



So Mancher kämpft noch mit den Folgen der nächtlichen Versuchung. Während die einen mühsam versuchen den Morgen auf unbestimmte Zeit hinaus zu schieben sind andere dabei die Maschinerie des unbegrenzten Vergnügens wieder in Gang zu bringen. Nein, das lockt mich nicht. Ein paar Schritte weiter, in der kleinen Dorfkirche, herrscht Stille und es ist angenehm kühl. Die Sonne zeichnet durch die alten Glasfenster hindurch mystische Zeichen auf die Jahrhunderte alten Steinstufen vor dem Altar. Stufen aus Steinen die älter sind als alles Tote und Lebendige im Umkreis. Die in ihrer kühlen Ruhe verharren und dem Reisenden etwas über das Prinzip Ewigkeit erzählen könnten wenn er denn nur zuhören wollte. Ich nehme mir den Reisesegen als Motto, der mich an der Türe verabschiedet: Dann, wenn Ruhe einzieht und sich in Dir breit macht, wenn die Zeit mehr wird, die Dich nicht mehr hetzt, atme sie ein, diese Augenblicke!



Ich trete wieder hinaus in die Hitze. Es ist Sommer. Über den kleinen Kirchhof mit seinen alten Grabsteinen, seinen bunten Blumen und Büschen tanzen die ersten Schmetterlinge des Morgens. Respektlos vor der Würde des Ortes zanken die Vögel um Leckerbissen. Auch der Tod ist eben nichts für die Ewigkeit. Der Weg führt aus dem kleinen Dorf hinaus in die benachbarte Hansestadt.



Schon am Vormittag hat sich die Hitze breit gemacht. Dort, wo sonst Betrieb herrscht ist es still. Nicht einmal Touristen sind hier um die Barockarchitektur in ihre Digitalkameras einzufüllen um dann zu Hause nicht mehr zu wissen ob das nun in X oder Y war. Es herrscht Ruhe, die Gebäude schirmen den Innenhof gegen den Lärm der draußen herrscht perfekt ab. Das hier ist eine der ältesten Universitäten Deutschlands. Und trotz der formalen Strenge der Architektur strahlen die Gebäude so etwas wie Ruhe und Heiterkeit aus. Gerade so als ob sich die Essenz des Studentenlebens in ihren Mauern verewigt hätte.



Die Hitze nimmt zu. Jetzt gibt es nur noch eins. Raus aus der Stadt. Sich irgendwohin treiben lassen. Es sei denen gedankt die vor Hunderten von Jahren damit begonnen haben Alleen anzulegen. Der Wagen taucht ein in die schattigen Gewölbe durch deren Blätterdach die Sonne feine Muster auf den Asphalt ziseliert. Kilometerlang trüben leider massige Leitplanken das Bild. Leitplanken, die der greifbar gewordene Beweis dafür sind dass die technischen Möglichkeiten des Menschen seine geistigen bei weitem überschreiten. Leitplanken die verhindern sollen dass irre gewordene Möchtegern–Ferraristi und Bockwurst-Fittipaldis ihre motorisierten Badewannen an den alten Bäumen zerschellen lassen und dabei selbst Schaden nehmen. Und wenn dann doch etwas passiert ist natürlich der Baum schuld. Was steht er da auch herum? Den mental untermotorisierten Hubraum-Dompteur der seine lächerlich hässliche, gegen die Außenwelt hermetisch abgeriegelte, vollklimatisierte, schalldichte, allradgetriebene Freizeitkloschüssel gegen den Baum klatscht weil er meint für ihn gälten die Gesetze der Physik nicht, den trifft natürlich keine Schuld. Manchmal wünschte ich mir dass zum Erwerb eines Führerscheines auch das mehrmonatige Fahren mit einem Auto der fünfziger oder sechziger Jahre gehörte. Mit einem Auto das einem nicht das heute scheinbar ab Werk eingebaute Allmachtsgefühl vermittelt. Das alles geht mir durch den Kopf während der Weg durch den schnurgeraden, schattigen Kreuzgang weiter führt. Seid gewarnt: wer immer Hand an diese alten Bäume legt dem soll der Blitz in den Stert schlagen! Aber gewaltig.





Links lockt eine Strasse. Oder besser: das was man vor zirka hundertfünfzig Jahren für eine Strasse gehalten hat. Grob behauene Steine sorgsam verlegt, kilometerlang. Dicht an dicht und so perfekt dass nicht einmal der moderne Verkehr bisher Schaden anrichten konnte. Was auch daran liegen dürfte dass zum Glück die eben beschriebene Klientel mit ihren Potenzersatzmitteln solche Strassen zu meiden pflegt wie der Teufel das Weihwasser. Die Strasse windet sich durch ein kleines Dorf mit weißen, reetgedeckten Häusern. Hinter einer Kurve am Ende des Dorfes streckt sich die Strasse. Wird gerade, ernsthaft, ja repräsentativ. Führt auf ein altes Torhaus zu.



Die Durchfahrt ist so massiv und massig dass nicht nur ich hier eine Weile bewundernd und staunend ausharre um die Stille zu genießen. Auch andere haben sich hier zu Dutzenden behaglich eingerichtet.




Im Innenhof steht, auf einer leichten Anhöhe, das alte Herrenhaus. Stein gewordenes Symbol für Stolz und Erfolg, für Fleiß und wohl auch Verdienst. Selbst die Verwahrlosung der letzten Jahrzehnte konnte ihm diese Anmutung nicht rauben.



Das Portal wirkt trotz Verwitterung und Zerstörung auf verschmitzte Weise immer noch einladend. Auch wenn es sich nicht öffnet um Eintritt zu gewähren. Sich Eintritt verschaffen muss der Besucher selbst. In dem er sich auf eine der im Schatten liegenden alten Steinstufen setzt und die Augen schließt. Seiner Fantasie Raum und Zeit gibt. Dann hört er die Holzschuhe des Gesindes eilig über den kopfsteingepflasterten Innenhof klappern. Pferde ziehen Fuhrwerke über den weiten Innenhof. Knechte fluchen, Mägde kichern, eine leichte Kutsche rollt durch die Alle, durch den Torbogen, hält vor dem Portal. Man muss sich einen Moment hinsetzen und ganz einfach die Atmosphäre wirken lassen, sich öffnen. Dagegen sind fünfzehn Folgen der Dokusoap Leben wie vor hundert Jahren ein jämmerlicher Entertainmentdreck.



Auch hier fordert die Mittagshitze ihren Zoll. Man macht es sich bequem, richtet sich ein. So wie es im Sommer halt sinnvoll ist. Was tagsüber liegen bleibt kann durchaus noch am Abend erledigt werden. Der eine macht es sich im Gras bequem



der andere zieht einen erhöhten Standort vor.



Und rundherum stehen die alten Gemäuer mit ihren vor Standhaftigkeit strotzenden Ständern aus Eiche. Manchmal scheint es als ob sie leise Lachen über die Eitelkeit heutiger Bauherren die mit aufgeschäumten Gasbetonsteinen draußen im Neubaugebiet vor dem Portal verschrobene Türmchen an ihre Häuser kleben. Häuser die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ein Zehntel der Lebenserwartung haben wie die alten Scheunen oben beim Herrenhaus.



Der Weg zurück durchs Portal rüber ins Dorf bringt eine Überraschung: eine Eisdiele! Aber was für eine. Ein klitzekleiner Laden, eigentlich nur durch Zufall zu entdecken. Keine Werbung. Geschweige denn eine Leuchtreklame. Es gibt vier Sorten Eis. Vanille, Yoghurt, Schokolade und Sanddorn. Nicht mehr und nicht weniger. Aber was für ein Eis. In kupfernen Kesseln sorgsam gekühlt, von Hand zubereitet nach alter Art. Nicht cremig und schon gar nicht schaumig wie es das neumodische Fabrikgeglibber in den bunten Plastikkübeln ist. Eis von dem uns der Hersteller weiss machen will dass es so besonders cremig und zart im Schmelz sei. Und dabei ist es doch nur der klägliche Versuch uns darüber zu belügen dass nun noch mehr Stickstoff in die Masse gepresst wird um sie aufzulockern. Was in diesem Falle nicht mehr und nicht weniger als Betrug am Konsumenten ist. Denn er bekommt einfach mehr Gas für mehr Geld, dafür füllt der Hersteller weniger Eismasse in den Plastikpott.



Diese Tricks gibt es hier nicht. Und das Eis ist cremiger, zartschmelzender und wohlschmeckender als alles Eis das ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren gegessen habe. Und in diesem Falle schäme ich mich absolut nicht total über die Stränge geschlagen zu haben.

Solcherart beglückt und erfrischt führt die Landpartie weiter. Hinaus ans Haff. Vorbei an einer anderen Ruine. Von ihren Erbauern für beinahe eine Ewigkeit geplant und nach nicht einmal vierzig Jahren schrottreif.




Die Landschaft erinnert ein wenig an die französische Atlantikküste. An die Landes mit ihren Dünen und Wäldern. Nur dass dort Pinien die Landschaft prägen während es hier Buchen und Kiefern sind. Es ist höchste Zeit sich einen Moment zu erfrischen und die nächsten zwei Stunden unter einem schattigen Baum zu verbringen. Platz ist reichlich.



Weiter geht es um das Haff herum. Da duckt sich eine kleine alte Stadt mit wehrhafter Kirche. Eine schmale Gasse führt hinauf. Auf dem Kirchplatz angelangt könnte man sich in einer süddeutschen Kleinstadt vermuten. Irgendwo in Bayern.



Die Ähnlichkeit der Architektur ist verblüffend. Aber der Wasserspeier am alten Brunnen schert sich einen Dreck um solche Gedanken und tut das, was er schon seit Ewigkeiten macht:



Ein paar Schritte weiter gibt es wieder so ein verlockendes Angebot dem ich nicht widerstehen kann. Es ist auch allerhöchste Zeit für eine kleine Stärkung. Schließlich will der ganze Weg hierher irgendwann auch wieder zurück bewältigt werden. Das ist ein perfekter Grund um ein paar Köstlichkeiten mehr zu probieren.



Und die Vision die mich am Ende der Landpartie ereilt hat nicht etwa mit dieser Völlerei zu tun. Denn hier, in diesem auf so fantastische Weise verwunschen erscheinenden Landstrich mit all seinen Wundern und Schönheiten ist auch die Begegnung mit einem fliegenden Holländer nichts Außergewöhnliches.

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